Das Ende der Welt

Vanuatu liegt auf der anderen Seite der Erde. Ein Inselstaat, der so massiv unter dem Klimawandel leidet, dass er gegen die Industrienationen vor Gericht ziehen will. Über ein kleines Land mit großen Zielen.

Fotos: Felie Zernack, Text: Ann Esswein

Erschienen am: 28.05.2020 in der Süddeutschen Zeitung


Die Bewohner von Willy Kenneths Dorf haben sich den schönsten Strand ausgesucht, um ihre Vorfahren zu begraben. Korallengeröll knirscht unter seinen Nike-Latschen, als Kenneth die Küste seiner Insel entlangläuft. Das warme Meer ist so türkisblau, als wäre es mit Photoshop bearbeitet. Kokospalmen flattern im Wind. Das Paradies, könnte man meinen. Ein sicherer Ort, so dachten sie lange.

Früher, als er mit den anderen Kindern am Friedhof spielte, war das Meer zwanzig Meter weg, sagt Willy Kenneth und deutet auf die Linie, wo die Wellen auf den Strand rauschen. Heute sind es zwei Meter. Das Wasser habe sich langsam immer weiter über den Strand gefräst, Bäume umspült und zum Einstürzen gebracht. Das Land erodiert, sagen die Wissenschaftler, die aus aller Welt in das kleine Dorf Worasifiu kommen.

Würde man in Deutschland ein Loch in die Erde bohren, käme man mitten im Pazifik heraus. Und mitten in diesem tiefsten Ozean der Welt liegt Pele, eine von 83 Inseln, die zum Staat Vanuatu gehören. Etwa 300 000 Bewohner leben auf den Inseln. Eine britische Studie behauptete vor ein paar Jahren, diese Menschen seien die glücklichsten der Welt.

Abseits der Kleinstädte gibt es keine Straßen, keine Autos, nur Dschungel und Vulkanberge, die sich inmitten der Inseln erheben. Manche Orte sind nur mit dem Boot oder Helikopter erreichbar. Viele der Bewohner haben ihre Häuser, Läden und Kirchen direkt an der Küste gebaut. Sie leben schon immer vom Meer. Und sie fürchten es, heute mehr denn je.

Je stärker die Stürme, desto schlimmer die Erosion. Dann umspüle das Wasser auch die Gräber, so erklärt es Willy Kenneth, ein Mann mit grau melierten Schläfen und einer Stirnfalte, wie sie Fischer haben, die ständig in die Sonne schauen müssen. Er läuft vorbei an abgestorbenen Bäumen und umgefallenen Grabsteinen. Wenn die Bewohner Peles spazieren gehen, legen sie die freigelegten Knochen auf die Bäume, als könnten sie damit ihren Vorfahren die letzte Ruhe zurückgeben. Willy Kenneth kniet sich vor das Grab seines Urgroßvaters. Bald könnte auch dieses Grab weggespült werden.

Es ist Januar, die tropischen Wirbelstürme haben Saison. Er warte nur auf den nächsten Zyklon der Kategorie fünf, sagt Kenneth. Kategorie fünf bedeutet: Ein Sturm, der mit 300 Stundenkilometern über die Insel fegt. So schnell wie ein ICE. Ob sein Haus und das seiner Nachbarn dann noch stehen wer- den? Er zuckt mit den Schultern. Er habe keine andere Wahl, als zu warten: „Wir wissen, dass es den Klimawandel gibt und dass wir nichts tun können.“

Willy Kenneth droht es nicht nur, das Grab seines Urgroßvaters zu verlieren und sein Haus an der Küste, die Wellen nehmen ihm und den anderen Bewohnern noch viel mehr. Die immer stärker werdenden Stürme gefährden Traditionen und Identifikation. Es gibt zwei offizielle Begriffe dafür: Verlust und Schaden, oder in Englisch: loss and damage. Vanuatu hat die Begriffe bereits vor Jahren auf die Agenda der Klimakonferenzen gebracht. Ein zusammengestürztes Gebäude, umgeknickte Palmen und verwüstete Felder, das sind Schäden, die man erheben und auch beheben könnte. Verlust bezeichnet alles, was wegen der Folgen des menschengemachten Klimawandels nicht wieder zusammengeflickt werden kann. Was für immer verloren gehen könnte. Eine eigene Sprache zum Beispiel, eine eigene Kultur.

Diese Geschichte verbindet eine kleine Welt mit der großen: Da ist auf der einen Seite ein Staat, im Osten von Australien gelegen, der so wenig CO2 ausstößt wie kaum ein anderer auf der Welt. Lediglich 0,0001 Prozent von Deutschlands jährlichem Treibhausgas-Kontingent. Ein Staat, der gleichzeitig wie kaum ein anderer unter den Folgen des menschengemachten Klimawandels leidet.

Und da sind auf der anderen Seite die vielen großen Industrienationen, die für diese Katastrophen zur Verantwortung gezogen werden sollen, in Den Haag, vor dem Internationalen Gerichtshof. Angeklagt von Vanuatu. Es wäre ein historischer Präzedenzfall, den der Inselstaat da früher oder später schaffen könnte. Dass es nun, da die Welt mit einer anderen Katastrophe beschäftigt ist, eher später wird – auch davon handelt diese Geschichte.

An diesem Morgen fährt Willy Kenneth früh aufs Meer hinaus, um zu überprüfen, ob sich das Korallenriff erholt hat. Das gehört zu seinem Job, im Dorf trägt er den Titel „Manager für Ressourcenschutz“. Vor 15 Jahren hörte er zum ersten Mal vom Klimawandel, US-Amerikaner, die in seinem Dorf Freiwilligenarbeit machen, erzählten davon. Ihm wurde klar, warum sich das Meer und das Wetter auf der Insel so stark verändert hatten. 

 Mit tuckerndem Motor umkreist sein Boot gemächlich die Insel. Im Meer schimmern Korallen in allen Farben, so nah, dass man sie berühren könnte. Aber die bunten Flecken sind selten geworden. Vor vier Jahren hätten sie neunzig Prozent des Korallenriffs verloren, erzählt Willy Kenneth. Wenn sich das Meer erhitzt, oxidieren die Korallen. Sie werden erst weiß, dann sterben sie ab und rauschen als Geröll an die Strände. Dabei funktioniert das Korallenriff eigentlich wie ein Schutzwall – wird es porös, klatschen die Wellen ungehindert an den Strand. Ganze Strandabschnitte verschwinden, vor allem, wenn es stürmt. Tropische Wirbelstürme, sogenannte Zyklone entstehen, wenn sich die Meeresoberfläche auf über 27 Grad erhitzt. Willy Kenneth sagt: „Alles hängt zusammen”. Alles, das heißt in Vanuatu: Dürre, Starkregen, Tropenstürme, Korallenbleiche, Meeresspiegelanstieg. Kein Land auf der Welt ist der United Nations University zufolge stärker von Naturkatastrophen betroffen. 2019 sagte UN-Generalsekretär António Guterres nach einer Reise in die Region: Für manche der Inselstaaten „ist der Klimawandel eine existenzielle Bedrohung“. 

Am schlimmsten hat es Vanuatu vor fünf Jahren getroffen. Es war der 13. März 2015, um 23 Uhr, als der Tropensturm Pam auf seiner Insel ankam, erinnert sich Willy Kenneth noch genau. In jener Nacht verbarrikadierten sich Kenneth und die anderen etwa 60 Bewohner im einzigen betonierten Haus des Dorfes. Als die Fenster einbrachen, hielten sie sich an den Händen und beteten. Am nächsten Tag, als Kenneth aus dem Haus kroch, habe er sein Dorf Worasifiu nicht wiedererkannt. Die Bäume hatten keine Blätter mehr. Häuser lagen in Trümmern, die Schule ist bis heute nicht wieder aufgebaut.

Mindestens 24 Menschen kamen in Vanuatu durch Tropensturm Pam um. Ein Viertel der Bewohner wurde obdachlos. Die Schäden: fast 60 Prozent von Vanuatus Bruttoinlandsprodukt. Der Verlust: nicht messbar.

Würde der Meeresspiegel um fünfzig Zentimeter ansteigen, wäre Worasifiu verloren

Am Strand stehen Frauen bis zur Hüfte im Wasser und fischen. Der Großteil der Bevölkerung auf Vanuatu lebt von dem, was die Natur hergibt: den Fischen im Meer, den Bananenstauden im Dschungel, Papayas und Avocados und Wurzelgemüse, das in Sträuchern um ihre Häuser wächst. Und auch die sind aus dem gebaut, was da ist: Lehm und Palmenblätter. Wer sich ein Haus mit Betonfundament und einem Dach leisten will, das den Stürmen standhält, arbeite als Erntehelfer in Australien und Neuseeland, sagt Willy Kenneth. Etwa 7000 Menschen aus Vanuatu arbeiten als Saisonarbeiter in Neuseeland und Australien, oft bleiben sie dort. Und viele der Jüngeren ziehen nach Port Vila. Jeder, der sein Dorf, seine Insel verlässt, nimmt seine Sprache mit, seine Tradition. Das glücklichste Volk der Erde? Auf Pele wird man belächelt, wenn man die Studie anspricht.

Auch Kenneth war einer, der ging. Er lernte in der Hauptstadt Englisch, arbeitete dort für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Aber er ist zurückgekommen nach Pele. „Das hier ist das Paradies für mich“, sagt Kenneth. Wer, wenn nicht er, kann die Jugend auf die Zukunft vorbereiten?

Bis zum Ende des Jahrhunderts soll der Meeresspiegel noch um sechzig Zentimeter steigen, sagt Kenneth. Würde der Meeresspiegel nur um fünfzig Zentimeter ansteigen, wäre Worasifiu verloren. Spätestens wenn die Bäume am Dorfplatz umkippen, vom Meerwasser umspült, werde sein Dorf umziehen müssen, sagt Willy Kenneth. Wohl auf den Berg, der sich hinter den Häusern erhebt. „Das wird die Gemeinschaft verändern.“

Die Weltbank schätzt, dass in dreißig Jahren die Heimat von weltweit mehr als 140 Millionen Menschen durch den Klimawandel bedroht sein wird. Das sind in etwa so viele Menschen, wie in Russland leben. Schon heute fliehen weltweit mehr Menschen vor Extremwettern als vor Konflikten. Der Verlust, der entsteht, wenn ganze Dörfer umsiedeln müssen, lässt sich kaum berechnen. Die Schäden lassen sich sehr wohl beziffern: Jedes Jahr soll Vanuatu etwa 45 Millionen Euro durch Extremwetter verlieren. Das entspricht fast sieben Prozent seines Bruttoinlandsprodukts.

Ein Land leidet unter einer Entwicklung, für die es nichts kann. Wer also soll dafür haften? Geht es nach Ralph Regenvanu, dem Außenminister Vanuatus, ist die Antwort einfach.

Am 22. November 2018 tritt er beim Climate Vulnerable Forum auf, nicht auf einem Podium, sondern auf dem Computerbildschirm. An dem virtuellen Treffen nehmen jene 48 Staaten teil, die sich am meisten vom Klimawandel bedroht sehen. Ein Alternativgipfel für die Verlierer der Klimadiplomatie, könnte man sagen.

Regenvanu steht in blauem Hemd vor einem türkisblauen Meer vor der Kamera, seine Ankündigung wird ihn in die Schlagzeilen bringen.

„Meine Regierung untersucht nun alle Möglichkeiten, das Justizsystem in verschiedenen Ländern zu nutzen, auch nach internationalem Recht, um die Kosten des Klimaschutzes wieder auf die verantwortlichen Länder zu verlagern, die am meisten fossile Brennstoffe nutzen: Die Finanzinstitutionen und Regierungen, die aktiv oder unbewusst diese existenzielle Bedrohung für mein Land geschaffen haben.“

Ralph Regenvanu ist damals noch nicht einmal ein Jahr im Amt. Doch der frühere Minister für Land und Geologie war schnell zum Klimadiplomaten geworden. Er besuchte Konferenzen, traf Wissenschaftler und Politiker, verteilte Visitenkarten und versuchte, so viele Mitstreiter wie möglich zu finden.

Sein Ministerium liegt auf einem Hang, gegenüber von einem Sportplatz, in Port Vila. Im Gang brummt die Klimaanlage, eine hölzerne Treppe führt in den zweiten Stock. Die Tür zu Ralph Regenvanus Büro ist offen. Er sitzt in Hawaiihemd über seinen Schreibtisch gebeugt, eingerahmt von Papierstapeln und einem Gesteck aus Plastikblumen in Grün, Rot, Schwarz. Die Nationalfarben Vanuatus.

Ralph Regenvanus Vater war Landesminister, als Vanuatu, das seit dem 19. Jahr- hundert unter britisch-französischer Herrschaft stand, 1980 die Unabhängigkeit erkämpfte; seine Mutter war eine Pastorin aus Australien. Er habe beide Welten und vor allem die Unterschiede zwischen diesen Welten kennengelernt, sagt er, schlägt die Beine übereinander und lässt die Flip-Flops auf den Fliesenboden sinken. Er überlegt lange, bevor er spricht. Die koloniale Ungerechtigkeit beschäftige ihn schon sein ganzes Leben, sagt er. Heute gehe es ihm vor allem um die Frage, wie Vanuatu sich entwickeln soll, wenn die Regierung jedes Jahr einen bedeutenden Teil des Staatshaushaltes für die Schäden durch den Klimawandel ansetzen muss.

Diese Frage wird seit fünfzehn Jahren auf den Klimakonferenzen der Vereinten Nationen debattiert. Doch der Artikel 8 des Pariser Klimaabkommens, in dem es darum geht, „Verlust und Schaden“ zu vermeiden, zu verringern und zu bewältigen, beinhaltet keine Haftung und Entschädigung.

Stattdessen wurden Fördertöpfe eingerichtet. „Sie sind nicht ausreichend”, sagt Ralph Regenvanu. Es geht ihm nicht nur um die Gelder, sondern darum, wie sie eingesetzt werden: Eigentlich bräuchte Vanuatu Unterstützung für die Umsiedlung von Küstengemeinden, für den Wiederaufbau nach den Unwettern, für Ernteversicherungen, auch für lokale Notfallfonds. Doch bislang fließen umgerechnet 21 Millionen Euro eines der Fördertöpfe in ein einziges Projekt, das wissenschaftliche Daten besser nutzbar machen soll. Ziel ist es, sich den unausweichlichen Folgen des Klimawandels wenigstens anzupassen.  Diese „Adaption“ ist auf Pele zur Hauptstrategie geworden und zur einzigen. 

 Folgt man den Trampelpfad von Willy Kenneths Dorf, an der Schule vorbei, kommt man in das Dorf Piliura. Eine Solarpumpe steht am Wegrand. Bei Dürre soll sie auf der Insel, auf der es keine einzige Quelle gibt, Grundwasser an die Oberfläche befördern. Sie ist seit zum Zeitpunkt des Besuchs defekt, die Bewohner „ernten” den Regen in großen Fässern. Vor einem Haus in der Mitte des Orts steht ein kastenförmiger Solartrockner, das Sonnenlicht soll Obst und Gemüse zu rosinenförmigen, haltbaren Lebensmitteln zusammenschrumpeln lassen. Essen für schwierige Zeiten, in denen Unwetter wieder einmal die Ernten zerstören.

 In dem Haus hinter dem Solartrockner wohnt Salome Kalo, 41, eine Frau mit starkem Rücken, Badeshorts und Flip-Flops. Sie ist in Piliura die Beauftragte für Nahrungsmittelsicherheit. Wie es sich anfühlt, wenn nicht genügend Essen mehr da ist, das wisse sie spätestens, seit Zyklon Pam über ihr Dorf hinweg gezogen ist, erzählt sie. Er hinterließ die Bäume ohne eine einzige Frucht.

  Mit ihrer Tochter an der Hand läuft Kalo zu ihrem Gemüsefeld. Es liegt geschützt im Windschatten der Häuser, trotzdem ist es mit den Jahren kleiner und kleiner geworden. Seit die Stürme immer stärker werden, wachse auf einem Teil des Feldes nichts mehr, sagt Kalo und lässt eine Ranke Bohnen durch ihre Hände gleiten. Noch dazu hat es seit Tagen nicht geregnet, obwohl doch gerade Regenzeit ist, sagt Salome Kalo: „Das Wetter hat sich verändert.“ In ihrem Permakultur-Garten auf dem Feld experimentiert sie, wie verschiedene Sorten zusammen angepflanzt werden können. Widerstandsfähiger sollen sie sein und durchmischter. Aber das alleine wird wohl kaum ausreichen, um ihr Dorf zu versorgen, wenn der nächste Sturm die nächsten Felder zerstört hat.

 Salome Kalo war an diesem Tag in der Hauptstadt. Etwa drei Stunden sind es mit dem Boot, dem Bus und dem Kleinbus bis zum Markt. Doch weil, wie Kenneth schon sagte, alles mit allem zusammenhängt, kommen der Reis, die Kekse und die Nudeln, die Kalo und die anderen Mitbewohner in schlechten Zeiten vor dem Hunger bewahren, ausgerechnet aus den Ländern, die der Außenminister von Vanuatu vor den internationalen Gerichtshof sehen will.

  Noch nie hat sich ein Land getraut, ein anderes für Klimawandelschäden vor einem internationalen Gericht zu verklagen. Sie fürchten, dass die wohlhabenden Nationen Entwicklungsgelder streichen könnte, oder ein Embargo, vermutet Hermann Ott. „Diese Befürchtung ist nicht ganz unbegründet”, sagt der Rechtsanwalt, der die deutsche Sektion von ClientEarth leitet. Die Rechts- und Umweltorganisation klagt, ähnlich wie eine Anwaltskanzlei, gegen die Kohleindustrie, gegen die Verursacher von Luftverschmutzung und Überfischung.

Dass Einzelpersonen oder Nichtregierungsorganisationen gegen Unternehmen klagen, das gab es schon häufiger. Klimaklagen ersetzen zähe politische Verhandlungen, könnte man sagen, sie machen Klimapolitik erzwingbar. Meist richten sie sich gegen die „Carbon Majors“, die größten Öl-, Gas- und Kohle-Konzerne der Welt, jene neunzig Unternehmen, die für knapp zwei Drittel der ausgestoßenen CO2- Mengen verantwortlich sind. Eine Klimaklage vor einem internationalen Gerichtshof wäre dagegen neu. Es wäre eine Sensation, sagt Hermann Ott in Berlin, und absolut überfällig.

Ein regnerischer Tag, Ende Januar. In Port Vila trifft sich an diesem Tag zum zweiten Mal eine „Legal Task Force“. Die Gruppe hat der Außenminister ins Leben gerufen, das Parlament hat den Wissenschaftlern, Juristen und Politikern ein Mandat für ein Jahr gegeben. Ein Anwaltsbüro, das 4000 Kilometer weiter nördlich auf der Pazifikinsel Guam sitzt, wurde damit beauftragt, eine schlüssige Strategie zu finden.

Könnte sich Vanuatu zum Beispiel auf das internationale Seerecht berufen? Demnach wäre Hitze eine Art der Umweltverschmutzung. Oder auf eine Menschenrechtsgrundlage, zum Beispiel das Recht auf ein unversehrtes Leben? Und wären die Angeklagten dann etwa Europa oder die USA? Also Kontinente und Länder, die den Unternehmen keine Grenzen setzen?

Willy Missack leitet die Gruppe, ein junger Mann mit weißem Polohemd, der von sich selbst sagt, dass er es leid sei, für Klimakonferenzen zu fliegen. Das nächste Mal würde er am liebsten segeln. Er hat damals ein festes Ziel: Bis zum Ende des Jahres will Vanuatu beim Internationalen Gerichtshof ein Rechtsgutachten anfragen.

Ein Rechtsgutachten ist eine Art Grundsatzentscheidung. Anders als ein Gesetz kann es nicht mit Zwang durchgesetzt werden, hat aber symbolische Kraft. Ein Rechtsgutachten ist nicht mehr nur ein juristischer, sondern ein politischer Akt, sagt Hermann Ott von Client Earth. Der Internationale Gerichtshof hat bislang 28 solcher Gutachten erstellt – aber noch kein einziges zum Klimawandel. Würde Vanuatu das Gutachten Ende des Jahres anfragen, müsste die Mehrheit der Mitgliedsstaaten zustimmen. Auch Länder wie die USA oder China, die sich in der Vergangenheit immer dagegen gewehrt haben, anderen Staaten für die Schäden durch den Klimawandel Geld zu zahlen.

Gäbe es eine Mehrheit, stünde Vanuatu vor einer weiteren Herausforderung: Das Land müsste echte Beweise dafür liefern, dass Bewohner wie Willy Kenneth und Salome Kalo direkt vom Klimawandel betroffen sind.

An einer viel befahrenen Straße in der Hauptstadt zeigen Messgeräte in alle Himmelsrichtungen, sie gehören zu dem international geförderten Projekt des Landes. Hier befindet sich das Ministerium für Klimawandel und Katastrophenmanagement. Die neue Abteilung für Klimawandel liegt auf derselben Etage wie das Zentrum für Meteorologie, im Inneren flimmern Wetterkarten über aufgehängte Bildschirmen.

Der Drucker surrt. Allan Rarai, der Bereichsleiter, rollt auf einem Schreibtischstuhl hin und her, während er in einer australischen Studie aus dem Jahr 2011 blättert. Zyklone werden immer stärker, zitiert er eines der Ergebnisse. In Zukunft könne man vielleicht nicht insgesamt mehr Stürme erwarten, aber immer mehr Stürme der Kategorie fünf.

Eigene Forschung und aktualisierte Daten kann sich der Inselstaat kaum leisten. Das Ministerium setzt auf Fallstudien und die Beobachtungen derer, die das Land und die Natur am besten kennen, erklärt der Bereichsleiter: Fischer und Bauern. Nur, wie lässt sich beweisen, dass sich wirklich etwas verändert hat?

Es ist das große, ungelöste Problem des Klimarechts. Im vergangenen Jahr etwa scheiterte eine Klage von zehn Betroffenen vor dem Europäischen Gerichtshof. Die Begründung: Es konnte keine „individuelle Betroffenheit“ nachgewiesen werden. Eine Klage von drei deutschen Landwirten vor dem Verwaltungsgericht Berlin wurde mit einer ähnlichen Begründung abgewiesen.

Nicht alle betroffenen Pazifikinseln sind von der Idee überzeugt. Sie haben Angst

Die Lücke könnte die Attributionswissenschaft schließen. So nennt man die Wissenschaft, die eine erdumspannende Kausalkette erklären möchte: Am besten von der Fabrik bis zur chemischen Reaktion in der Atmosphäre, der Erhitzung der Meere, bis zum Tropensturm und zum zerstörten Haus auf der anderen Seite der Welt.

Auf der anderen Seite der Welt, an einem kalten Mittag in einem Anwaltsbüro in Hamburg. Absätze klackern auf Fischgrätenparkett. Roda Verheyen schwingt die Flügeltüren auf und wuchtet zwei Ordner auf einen Besprechungstisch. Aktenmaterial und Briefwechsel der letzten zwei Jahre. Roda Verheyen ist Deutschlands bekannteste Klimarechts-Anwältin. Sie vertritt einen peruanischen Bauern gegen RWE und erreichte dabei eine erste Entscheidung, die es so noch nicht gegeben hatte: Das Landesgericht Hamm erkannte eine wissenschaftliche Berechnung an, nach der RWE für 0,5 Prozent der weltweiten Treibhausgase verantwortlich sei. Und wenn es nach Verheyen geht, soll RWE nun auch für 0,5 Prozent der Folgen einer Gletscherschmelze aufkommen, die den peruanischen Ort Huaraz bedroht. Ende des Jahres sollen Experten Huaraz besuchen, mit Simulationen überprüfen, ob das Haus des Klägers von der Flut der schmelzenden Gletscher tatsächlich begraben werden könnte. Und wenn dem so wäre, dann könnte das Gericht zu dem Schluss kommen, dass RWE verantwortlich dafür ist, den Ort zu schützen. Es wäre eine juristische Schablone, die Gericht auf andere Fälle übertragen könnten.

So eine Schablone hat auch Vanuatus Außenminister zum Ziel. Folgen weit über den Inselstaat hinaus hätte es, sagt Ralph Regenvanu in seinem Büro, wenn ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs bestätigen würde, dass die Industrienationen für Verlust und Schaden auf Vanuatu verantwortlich sind. „Wenn wir das schaffen, dann könnte jedes einzelne Gericht in jedem Land, jeder Gerichtshof das als Vorlage nehmen. Es wäre die Basis für Übereinkommen zwischen Staaten, multilaterale Entscheidungen, sogar Handelsabkommen nach nationalem Recht.“ Es wäre für Vanuatu ein symbolischer Erfolg, die juristische Feststellung des längst Offensichtlichen: So wie bisher darf es nicht weitergehen. Mit einer Entscheidung könnten auch andere Staaten Druck ausüben auf Länder und Industrien.

Doch nicht alle betroffenen Pazifikinseln sind von dieser Idee überzeugt, im Gegenteil: Vanuatus Nachbarstaaten fürchten, die Beziehung mit den Staaten, von denen sie abhängig sind, könnten darunter leiden.

Heute ist Vanuatu einer der letzten Orte auf der Welt, den Corona noch nicht erreicht hat

Im Sommer soll Vanuatu Gastgeber des sogenannten Pacific Island Forums sein, eines großen Treffens von 18 Mitgliedsstaaten. Die Gelegenheit wollte Ralph Regenvanu nutzen, um die anderen davon überzeugen, das Rechtsgutachten zu unterstützen. Das erzählt der Außenminister noch Ende Januar. Zur selben Zeit gehen die ersten Nachrichten um die Welt, dass die chinesische Regierung innerhalb einer Woche ein Krankenhaus aus dem Boden stampft, dass die Provinz Wuhan abgeriegelt ist. Und einen Monat später schon ist die Corona-Pandemie in Europa angekommen, sämtliche Veranstaltungen werden abgesagt – so auch ein Termin vor dem Internationalen Gerichtshof, Ende April, zu dem eine Delegation aus Vanuatu eingeladen gewesen wäre.

Auch Vanuatu isoliert sich in diesen Monaten. Das Land, das sich auf internationalem Grund gegen die eine Bedrohung wehren wollte – es muss sich wieder zurückziehen, um sich vor der anderen zu schützen. Gleichzeitig bleibt das Land, das beispiellos unter der einen Katastrophe leidet, von der anderen verschont. Denn wieder nimmt Vanuatu einen Spitzenplatz ein: als einer der letzten Orte auf der Welt, die das Corona-Virus noch nicht erreicht hat.

Die Regierung lässt niemanden mehr ins Land. Gegen einen Sturm der Kategorie fünf aber helfen keine Grenzschließungen. Am 3. April zieht der Wirbelsturm Harold über Vanuatu, tötet drei Menschen, macht Tausende obdachlos, zerstört Häuser und Felder. „Covid-19 und Klimawandel: Wir müssen uns gegen beide Krisen wehren“, heißt es auf der Homepage des Pacific Island Forum.

Tatsächlich drängt die Pandemie derzeit den Klimaschutz zurück, überall auf der Welt. Die juristischen Forderungen aus Vanuatu bleiben erst einmal ungehört. Ob der Inselstaat wirklich wie geplant bis zum Ende des Jahres ein Rechtsgutachten anfragen kann, ist unsicher.

Auf Pele sitzt Willy Kenneth an einem sonnigen Januartag unter einem Palmendach neben seinem Haus. Er spricht von seinem Sohn. Alexander, acht Jahre alt. In dreißig Jahren werde er fast so alt sein, wie Kenneth heute ist. Wird das Dorf dann noch stehen? Sein Haus? Oder wird Alexander dann ohnehin schon lange fortgegangen sein, wie so viele andere junge Leute? „Wir teilen denselben Ozean, dieselbe Luft, denselben Planeten.“ Ob auf der Bergspitze oder an der Küste, in Deutschland oder in Vanuatu, man sei immer Teil davon, sagt er. Alles hängt zusammen.

„Wir sollten alle die gleichen Sorgen haben”, sagt Kenneth im Januar. Heute umspannt eine Pandemie die Welt, Willy Kenneth lag richtig, könnte man sagen. Aber natürlich lag er auch falsch. Die Angst vor Corona spüren alle Länder der Welt. Die Angst vor dem Klimawandel offenbar noch nicht.