Jahresthema 2025: Femizide

Als journalistisches Kollektiv sehen wir unsere Aufgabe darin, auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen. Jedes Jahr recherchieren wir deshalb zu einem Thema, das uns besonders bewegt. Im Jahr 2025: Gewalt gegen Frauen und Femizide. Darum soll es gehen:

Zum Beispiel Norhan A. aus Berlin. Sie erfuhr Gewalt durch ihren Partner, also trennte sie sich, zeigte ihn sogar an. Am Ende konnte sie niemand schützen, vor fast einem Jahr wurde sie von ihrem Ex-Partner ermordet. Der Fall schlug hohe Wellen, überregionale Medien berichteten, auch weil der Fall die Frage aufwirft: Werden Frauen in Deutschland ausreichend geschützt?

Und, was glauben Sie: Werden sie?

Dazu ein wenig Statistik: Egal, ob Sie alt oder jung sind, arm oder reich, ob Sie in Köln-Ehrenfeld, Landau in der Pfalz oder im Erzgebirgskreis wohnen – statistisch gesehen kennen Sie eine oder mehrere Personen, die von Gewalt gegen Frauen betroffen ist. 

180.000 mal war eine Frau 2023 von häuslicher Gewalt betroffen. Ob Stalking, psychische, digitale, ökonomische Gewalt oder versuchte Tötungen – die Gewalt ist allgegenwärtig. Rund jeden zweiten Tag begeht ein Mann einen Femizid, jeden Tag versucht es einer. 

Femizid heißt: Hinter dem Tötungsdelikt steht ein geschlechtsspezifisches Motiv. Eine griffige oder gar einheitliche Definition gibt es bislang nicht. Oft liest man, er tötete sie, weil sie eine Frau ist. Richtiger müsste es bei Femiziden jedoch heißen: Er tötet, weil er ein Mann ist.

Die offiziellen Zahlen bilden jedoch nur das Hellfeld ab. Das, was sichtbar wird, wenn der Staat reagieren muss, weil die Nachbar*innen die Polizei gerufen haben. Oder die Betroffene. Der Großteil der Taten kommt jedoch nie zur Anzeige und landet nicht in der Statistik, sondern im sogenannten Dunkelfeld.

Zwar sprechen die Zahlen für sich, aber sie werden nicht gehört. Dabei sind diese Zahlen ein gesellschaftlicher Skandal. Hinter jeder Zahl steht ein einschneidendes Erlebnis. Jede ermordete Frau ist eine zu viel. Während die Tötungszahlen bei Männern sinken, bleiben sie bei Frauen* stabil. 

Wie kann das sein?

Femizide sind ein strukturelles Problem: Sie sind einerseits der extreme Ausdruck einer patriarchalen Ungleichverteilung von Macht. Andererseits tut Deutschland nicht genug, um Frauen davor zu schützen.

Wir sind das Selbstlaut Kollektiv, ein Zusammenschluss freier Journalist*innen. Wir glauben: Guter Journalismus kann Veränderung anstoßen. Und bei diesem Thema muss sich viel ändern. Als Kollektiv haben wir uns in diesem Jahr dem Thema Femizide gewidmet. Ende 2024 veröffentlicht das Bundeskriminalamt ein Lagebild dazu. Wir teilen die behördliche Definition von Femizid nicht, dennoch hat das BKA geschafft, was viele vorher vergeblich versucht haben: die mediale Aufmerksamkeit (auch unsere) auf das Thema zu lenken. Von Stalking über ökonomische und digitale Gewalt bis zu körperlichen Übergriffen: Das Spektrum ist breit und Femizide oft nur die Spitze einer sich ständig drehenden Eskalationsspirale. Sie sind gleichzeitig der traurige Tiefpunkt eines gesellschaftlichen Zustands, der sich fast täglich wiederholt. 

Den Zustand ausleuchten

Es ist ein manchmal widersprüchlicher Zustand, in der Betroffene Hilfe suchen und Anzeigen zurückziehen. Ein verzweifelter Zustand, in dem Jugendämter, Opferschutz- und Täterarbeitseinrichtungen gemeinsam beraten, wie sie Betroffene schützen und Täter auf Abstand halten. Ein überfordernder Zustand, in dem Polizeibeamt*innen in einer fremden Wohnung stehen und einschätzen sollen, ob der Partner demnächst wieder zuschlägt. Ein unhaltbarer Zustand, in dem Frauen mit Kindern die Stadt verlassen, weil es keinen freien Platz mehr im Frauenhaus gibt, während Gerichte die Täter nicht einmal dazu zwingen können, sich mit ihrem gewalttätigen Verhalten auseinanderzusetzen. Ein hilfloser Zustand, in dem Familienrichter entscheiden, dass das Kind Zugang zum prügelnden Elternteil haben soll und in dem dem einzigen Beratungsprojekt für von häuslicher Gewalt mitbetroffene Kinder in Berlin die Finanzierung gestrichen wird.

Ansätze, um die Gewalt gegen Frauen einzudämmen, sind längst verschriftlicht, beschlossen und geltendes Gesetz: In der Istanbul-Konvention, einem internationalen Vertrag zum Schutz von Frauen.

Der lange Weg

Vor sieben Jahren hat sich Deutschland zur Umsetzung der Konvention verpflichtet. Darin steht zum Beispiel, dass alle Behörden aktiv zum Schutz von Frauen beitragen müssen: räumlich, finanziell, personell – und vor allem untereinander abgestimmt. Dass der Staat auf Täter einwirken muss, um die Gewaltkarrieren prügelnder Partner und Ex-Partner zu unterbrechen. Dass Kinder ein Recht auf Beratung und Unterstützung haben, auch wenn die Schläge des Vaters nicht ihre Körper treffen. Und dass der Staat für eine bessere Datengrundlage sorgen muss.

Die Istanbul-Konvention zeigt einen langen, unbequemen Weg auf. Sieben Jahre hatte Deutschland bislang Zeit, um die Istanbul-Konvention umzusetzen. Expertinnen sagen: Sie ist ein Meilenstein. Sie sagen auch: In Deutschland herrscht bei der Umsetzung Stillstand.

Neben dem Ausmaß der Gewalt ist das ein weiterer gesellschaftlicher Skandal.

Die Ergebnisse – Magazin, Foto, Radio

Als Kollektiv setzen wir uns mit den Geschichten getöteter Frauen auseinander, sprechen mit Angehörigen und Überlebenden. Und: wir beleuchten, wie Männer zu Tätern wurden. Wir blicken auf die Arbeit der Behörden, interviewen Forscherinnen und Sozialarbeiter*innen, Psychologinnen und Politikern. Wir stellen ihnen die großen Fragen und wollen es im Detail verstehen. Die Ergebnisse finden Sie gesammelt auf dieser Seite, als Magazin-Reportage, Fotoessays und Radio-Features.

Wir sind hier noch nicht fertig. Schreiben Sie uns, wenn Sie uns Ihre Geschichte erzählen möchten, wenn Sie mit uns diskutieren wollen und natürlich, wenn Sie einen Auftrag für uns haben.