„Wenn ich noch einmal die Wahl hätte, ich würde ihn nicht mehr anzeigen.“

Anja wurde vergewaltigt. Eineinhalb Jahre später sagt sie vor Gericht gegen den Täter aus. Doch die Zeit davor war für Anja eine Tortur: Misstrauische Beamte, undurchsichtige Gesetze und das dauernde Gefühl, ihr werde nicht geglaubt.

von Naomi Gregoris und Anina Ritscher

Veröffentlicht am 26.02.2021 auf das Lamm


Triggerwarnung: In diesem Text geht es um sexualisierte Gewalt. Er enthält einzelne explizite Beschreibungen.

Anja* will raus. Sie befindet sich in einer Wohnung in Basel, draussen wacht die Stadt gerade auf. Es ist sechs Uhr morgens. Anja nimmt ihr Handy, läuft zur Tür und rennt hinaus, ohne Hose, barfuss die Treppe hinunter, dann auf die Strasse.

Der Mann, mit dem Anja die letzte Nacht verbrachte, rennt ihr einige Meter hinterher. Bei einem grossen Platz erst hält sie an und setzt sich zu einer Person an die Bushaltestelle. Ihre Stimme ist schrill. „Es tut mir so leid. Ich bin gerade vergewaltigt worden.“

Eineinhalb Jahre später sitzt Anja in einem Park im Kleinbasel und knetet ihre Hände. Es ist Ende Januar und in einer Woche wird sie vor Gericht gegen den Mann aussagen müssen, der sie in dieser Nacht im Sommer 2019 vergewaltigt hat. Sie hofft, danach endlich mit dem Erlebnis abschliessen zu können. „Es ist für mich ein Schlussstrich“, sagt sie. Seit eineinhalb Jahren sei sie in dieser Vergewaltigung gefangen.

Was Anja in der Zeit seit der Tat durchgemacht hat, bringt sie an diesem kalten Tag im Januar 2021 zum Schluss: „Wenn ich noch einmal die Wahl hätte, ich würde ihn nicht mehr anzeigen.“

Damit ist Anja nicht allein. 22 Prozent aller Frauen über 16 Jahren haben laut einer Studie des gfs Bern schon einmal ungewollte sexuelle Handlungen erlebt. Und trotzdem: Nur eine von zehn geht nach so einem Erlebnis zur Polizei, nur acht Prozent erstatten Anzeige. Rund die Hälfte aller Betroffenen spricht mit niemandem über das Erlebte, auch nicht mit Freund*innen oder Familie.

Wer Anjas Geschichte kennt, stellt fest: Etwas läuft gewaltig schief in der Ermittlung von Sexualdelikten. Bei den Behörden, in der Politik und in der Justiz. Warum? [weiterlesen auf das Lamm]