Architekten der Wahrheit

Sie haben Menschen vor dem Ertrinken gerettet, jetzt drohen ihnen bis zu 15 Jahre Gefängnis. Gegen Seenotretter der Iuventa wird wegen Schlepperei und krimineller Bandenbildung ermittelt. Ein Team von Forensischen Architekten versucht herauszufinden:
Was geschah wirklich auf hoher See?

Von Eva Hoffmann

Bilder von Patricia Kühfuss

Erschienen am 28. Mai 2020 im Sciences Notes Magazin


Der perfekte Ort für ein Verbrechen ist das Meer. Schweigend schlucken die Wellen die Spuren. Das endlose Blau unterscheidet nur zwischen Tag und Nacht, Wasser und Horizont. Aber das Meer vergisst nicht. Um in seine Erinnerungen ein- zutauchen, muss man ihm die richtigen Fragen stellen.

Am ersten Montag im neuen Jahr schlurft Lorenzo Pezzani in einen Raum voller junger Menschen. Sie könnten mit ihren Schlaghosen und dem exzentrischen Schmuck auch das Cover eines Modemagazins zieren. Am Eingang hängt ein Text von John Cage, zehn Regeln für Lernende, die zehnte: »Brich alle Regeln«. Optisch unterscheiden sich die Studierenden nicht von anderen jungen Menschen an der Goldsmiths Universität in London, international bekannt für ihre Studiengänge in bildender Kunst.

Pezzani spricht heute zwar über ein Bild, inhaltlich hat sein Kurs im Raum 312 aber nichts mit Kunst zu tun. Genauer genommen ist es ein Foto, das er an die Wand beamt. Es zeigt ein Schlauchboot, darin eine Person mit Helm und Rettungsweste, die ein blaues Holzboot hinter sich herzieht. 

Im Sommer 2017 erschien dieses Bild kurz nach seiner Aufnahme in italienischen Tageszeitungen, als vermeintlicher Beweis eines Verbrechens. Es soll zeigen, wie Seenotretter mit Schleppern nach einer Rettungsaktion kooperieren, indem sie das leere Holzboot zum erneuten Gebrauch zurück nach Libyen bringen. Das Boot mit den weißen Lettern »KK« wurde wenige Tage später erneut in der Rettungszone gesichtet. Deutsche Zeitungen griffen die Behauptungen auf. Das an der Rettung beteiligte Schiff Iuventa wird seitdem im italienischen Hafen von Trapani festgehalten. Teilen der Besatzung drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis, gegen sie wird wegen Schlepperei und krimineller Bandenbildung ermittelt. Die Anschuldi- gungen befeuerten den migrationsfeindlichen Diskurs des rechten Politikers Matteo Salvini kurz vor den Wahlen. Ausgehend von diesem einen Bild widerlegte Lorenzo Pezzani die Vorwürfe gegen die Besatzung. Seinen Studierenden zeigt er, wie er das geschafft hat.

Forensische Architektur heißt das Fach, das Pezzani selbst mal studierte und heute unterrichtet. Ein Team aus Architekten, Software-Entwicklern, Filmemachern und Anwälten hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschenrechtsverletzungen dort nachzuweisen, wo es keine unabhängigen Zeugen gibt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befragen den Tatort selbst. Anhand von Videoaufnahmen, Fotos, Bewegungsdaten, Audiomaterial oder Gedächtnisprotokollen Betroffener entstehen räumliche Nachbauten als neue Formen der Beweisführung vor Gericht.

So widmete sich ein Team von Forensischen Architektinnen und Architekten zum Beispiel dem tödlichen Schuss auf Halit Yozgat, der in einem Kasseler Internetcafé durch die rechtsextreme Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund ermordet wurde. Der anwesende Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme behauptete in den Verhandlungen, er habe den Schuss weder gehört noch gesehen. Das Team baute die Szenerie eins zu eins nach, rekonstruierte die Akustik der Tatwaffe und errechnete die Ausbreitung des Schießpulvergeruchs. Auf der Kunstausstellung documenta 14 konnten Besu- cherinnen und Besucher live den simulierten Mord riechen, hören und sehen. Andere Forschungen rekonstruieren den Einsatz von Chemiewaffen in Syrien, Fabrikfeuer in Pakistan oder die Herkunft von Ölteppichen in Argentinien. Die Er- gebnisse werden in 3D-Modellen, als Virtual-Reality-Projekte oder Landkarten visualisiert. Die Nachbildungen funktionieren gut in Gegenden, wo es Gebäude, Aufnahmen von Google Maps oder Material aus Überwachungskameras gibt. Auf dem Meer müssen die Forensischen Architekten zu anderen Mitteln greifen. »In der Vorstellung westlicher Wissenschaft ist ein Ort etwas Statisches«, sagt Pezzani, »aber auf dem Meer gibt es all diese architektonischen Anhaltspunkte nicht, an- hand derer wir normalerweise Szenarien rekonstruieren. Auf dem Meer ist alles in ständiger Bewegung«.

Im September 2017 wird Lorenzo Pezzani von Mitgliedern der Iuventa-Crew kontaktiert, die zuvor verständigt wurden, dass nun gegen sie ermittelt wird. Zu diesem Zeitpunkt hat er nichts als dieses eine Foto. Eine Szenerie, umgeben von blauem Wasser. Es ist ein Standbild, verschwommen und scheinbar Ausschnitt eines längeren Videos, das von einem anderen Rettungsschiff an diesem Tag aufgenommen wurde. Er lädt die Aktivisten in sein Apartment im Norden von London ein, um sich einen Überblick zu verschaffen über diesen 18. Juni 2017, den letzten Einsatztag der Iuventa. Mit den Duplo-Steinen seines Sohnes stellt der Forscher die Szenerie auf dem Boden seiner Wohnung nach. Es ist der Beginn einer fast zweijährigen Rekonstruktion.

Um 4:20 Uhr an diesem Tag im Juni kommt die Iuventa-Crew auf Anweisung der italienischen Küstenwache einem Boot in Seenot zu Hilfe. Mit Ärzten und Übersetzern nähert sich ein Schnellboot der Helfer den Menschen, verteilt Rettungswesten und nimmt zunächst Frauen und Kinder an Bord der Iuventa. Laut internationalem Seerecht ist es die Pflicht anderer Schiffe, Menschen in Seenot zu helfen. Um 5:44 Uhr erscheinen vier weitere Boote am Horizont. Drei davon sind Holzboote, das vierte ist ein Schiff der libyschen Küstenwache. Mehr als 500 Menschen befinden sich zu diesem Zeit- punkt in Seenot knapp hinter der libyschen Zwölfmeilenzone, sie alle kommen aus dem bürgerkriegszerstörten Libyen.

Ein weiteres Rettungsschiff kommt zur Hilfe, die Vos Hestia der Organisation Save the Children. Das Foto muss von die- sem Schiff aus gemacht worden sein, schließt Pezzani mangels anderer Möglichkeiten. Ein Journalist der Agentur Reuters war auf dem Schiff.

Dass er zu Beginn des Projekts von der Unschuld der Seenotretter ausgeht, stellt für den Wissenschaftler, der sich in seiner Heimatstadt Trient selbst für die Rechte Geflüchteter einsetzte, kein Problem dar: »Ich verleugne meine Position nicht. Diese viktorianische Haltung der Wissenschaft, dass Forschungsinteresse aus einem Vakuum entsteht, halte ich für gefährlich. Jeder Wissenschaftler hat ein Interesse an seinem Forschungsobjekt. Niemand sammelt einfach nur Fakten. Ich mache transparent, woher meine Haltung kommt, woher mein Blick auf diese Bilder kommt.« Vor dem Hintergrund der politischen Angriffe auf verschiedene Seenotrettungsorga- nisationen im Sommer 2017, der Falschmeldungen, die über Flucht und Migration kursierten, und dem Zuwachs rechts- populistischer Parteien in vielen europäischen Ländern sei es für Pezzani nur schlüssig gewesen, dem hitzigen Diskurs mit sachlichen Argumenten entgegenzutreten. »Wir suchen uns unsere Fälle selbst aus. Dabei geht es am Anfang der Recherche nicht darum, ein spezifisches Narrativ zu forcieren – auch wenn wir eine Haltung gegenüber den Anschuldigungen haben. Das Material wird am Ende für sich selbst sprechen«, sagt er.

Wenn er sich einem neuen Fall widmet, folgt Pezzani mit seinem Team zunächst einer immer ähnlichen Choreographie: Zuerst wird alles Material, das es vom Ort des Geschehens gibt, gesammelt, dann kontextualisiert. Wenn sich daraus keine schlüssigen Modelle ergeben, wird improvisiert. Im Fall der Iuventa mussten die Forschenden schon zu Beginn ihre Routi- ne verwerfen. Das Originalvideo, aus dem der Fotoausschnitt stammt, ist über die Agentur Reuters nur für mehrere Tausend Euro verfügbar. Da dem Projekt außer den bezahlten Stellen Pezzanis und seiner Kollegen an der Goldsmiths Universität zunächst keine weiteren Geldmittel zur Verfügung stehen, kann sich die Forschungsgruppe das Video schlicht nicht leis- ten. Das, was ihnen zur Verfügung steht, ist ein einziges Chaos. »Wir hatten viel zu viel Material, es war ein großes Durchei- nander«, erzählt Pezzani seinen Studierenden. Der gesamte Einsatz wurde über mehrere Stunden gefilmt, mit den Mini- kameras der Seenotretter auf den zwei Schnellbooten und von Bord der Iuventa aus. Bei einer internationalen Crew, deren Mitglieder aus mehr als sechs Zeitzonen kommen, sind auch die Metadaten der Kameras unterschiedlich eingestellt. Allein bis Pezzanis Team die verfügbaren Videos auf einem Zeitstrahl angeordnet hatten, vergingen Wochen. Da es auf dem Wasser weder Straßenschilder, Strommasten oder Ge- bäude gibt, an denen sich die forensische Architektur sonst orientiert, sucht Pezzani nach weiteren Daten, aus denen sich die Positionen der zwei Schnellboote, der Iuventa und der umliegenden Schiffe ablesen lassen. »Es ist wie ein riesiges Puzzle, bei dem die Teile nicht nur durcheinander sind, sondern anfangs auch fehlen«, sagt er.

Pezzani muss sich seine Orientierungspunkte selbst suchen. Hierfür nutzt er die Aufnahme der festen Bordkamera eines der Schnellboote, die bei Rettungen aus Dokumentationsgründen stets mitläuft. Die Aufnahme zeigt: Während die Helfer Rettungswesten an die Geflüchteten ausgeben, stößt ihr eigenes Boot immer wieder mit der Nase gegen das Holzboot, das dadurch leicht rotiert. Anhand der festen Kameraposition im Verhältnis zum Horizont, der ebenfalls ein stabiler Bezugspunkt bleibt, können die Forscher den Grad der Rotation beider Boote ablesen und erkennen, an welcher Stelle und zu welcher Zeit sich das blaue Holzboot einmal um sich selbst gedreht hat.

Die Videokamera hat nun ein Panorama der Situation aufge- nommen, auf dem auch die anderen Schiffe in der Szenerie jeweils unterschiedlich weit entfernt von der Kamera auftau- chen. Indem Pezzani die Pixel der Kamera in Bezug zu den wirklichen Größen der anderen Schiffe am Horizont der Aufnahme setzt, können die Verhältnisse der Schiffe untereinander in tatsächliche Distanzen übersetzt werden. Daraus lässt sich ein 3D-Modell der Situation erstellen, das allen Akteuren auf offenem Meer eine eindeutige Position und einen zeitlichen Marker zuweist. 

Pezzani mahnt, dass die Fehleranfälligkeit solcher Modelle hoch ist. Um die Koordinaten der beteiligten Schiffe zu überprüfen, setzt er auf mindestens zwei verschiedenen Quellen für jedes architektonische Modell. Hierfür fragen die Forschen- den die europäische Grenz- und Küstenwache Frontex nach Schiffsdaten an und gleichen diese mit dem handgeschriebenen Logbuch der Iuventa ab. Auch ein sogenannter Vessel- Tracker, eine Datenbank für Transponder-Signale großer Schiffe, gibt weitere Datensätze, die das 3D-Modell stützen.

Nach Monaten der Rekonstruktion erhält Pezzani doch einen kurzen Ausschnitt aus dem Reuters-Video, das die Seenotretter dabei zeigen soll, wie sie eines der Holzboote zurück Richtung Libyen bringen. »Das war der große Durchbruch«, erzählt Pezzani. »Endlich hatten wir dieses finale Puzzlestück, das uns noch fehlte.« Durch das 3D-Modell weiß das Team nun, wo sich die Vos Hestia, von deren Deck der Reuters-Journalist filmte, zum Zeitpunkt der Aufnahme befunden hat. Nun bittet Pezzani einen Meteorologen aus Massachusetts um Hilfe.

Anhand der Wetterdaten dieses Tages stellt der Experte fest, dass die Bewegung beider Boote entgegen der Windrichtung an diesem 18. Juni verläuft. Die Wellen bewegten sich von Ost nach West, hervorgerufen durch Wind aus dem Norden. Das Schlauchboot der Seenotretter zog demnach das Holzboot in eine nördlichere Position Richtung Iuventa, weg von den libyschen Gewässern. 

Nachdem die Crews der Iuventa und der Vos Hestia alle Ge- flüchteten evakuiert haben, binden sie die Holzboote nach Vorschrift zusammen und lassen sie in sichtbarer Entfernung treiben. Aus verschiedenen Videoaufnahmen geht hervor, dass sich nun ein weiteres Boot der Szenerie nähert. Die sogenannten »Engine Fisher« kommen, um die wertvollen Motoren zu entfernen und später wieder in Libyen verkaufen zu können, ein lukratives Geschäft in diesem Sommer auf dem Mittelmeer. Dass die Crew-Mitglieder der Iuventa zu keinem Zeitpunkt Kontakt mit den Fischern aufnehmen, geht aus dem Audiomaterial dieses Tages hervor. Später am Tag ver- suchten die Engine Fisher ihr Glück bei anderen Booten.

20 Monate haben Pezzani und sein Team gebraucht, um diese Rekonstruktion zu erstellen. Stundenlang hatten sie auf die immergleichen Bilder gestarrt, alles vermessen und ab- geglichen »Der Teufel steckt im Detail«, sagt er, als er seinen Studierenden das zwanzigminütige Video zeigt, »Und unsere Aufgabe ist es, diesen Teufel zu finden.« Er hat die Ärmel sei- nes Karohemds hochgekrempelt und erinnert mit der runden Hornbrille und dem Schnauzer an einen Detektiv aus einer anderen Zeit. Die Wut habe ihn immer wieder angetrieben weiterzumachen, sagt Pezzani. »Wenn ich mit Menschen spreche, die eine solche Flucht hinter sich haben, dann kommt mir diese ganze Anti-Seenotrettungskampagne der italienischen Regierung aus diesem Sommer noch absurder vor.«

Noch immer wird gegen die Crew der Iuventa ermittelt. Doch wenn es im Sommer 2020 zu einem Prozess kommt, dann wird das Beweismaterial für sich sprechen, hofft Pezzani. Er will seine Studierenden motivieren, sich nicht von unübersichtlichen Bildern einschüchtern zu lassen. Die Techniken, welche die Forensische Architektur für den Ozean entwickel- te, sind dafür ein gutes Lehrstück. Das Meer ist kein blinder Fleck mehr.