Die Tragödie ist noch nicht zu Ende

Als vor fünf Jahren in Parndorf ein Lkw mit 71 Leichen gefunden wurde, kam die Flüchtlingskrise mitten in Europa an. Einer der Toten war der Mann von Nahed Alaskar. Was hat das mit ihr gemacht? Und was mit dem Land?

August Modersohn und Christina Pausackl

erschienen am 27.08.2020 in der ZEIT


In der ganzen Wohnung hat Nahed Alaskar kein Bild von Hasan aufgehängt. In der Küche nicht, wo Nahed gerade Kaffee aufsetzt, und im Wohnzimmer nicht, wo Tala und Zaid, Naheds Kinder, 10 und 14 Jahre alt, auf dem Sofa warten. In der Ecke surrt ein Ventilator, es ist drückend heiß, und Nahed bringt Limonade mit Eiswürfeln und einen Teller mit Süßigkeiten an den Tisch. Tala nimmt einen Schluck und lächelt. Dann wirft Nahed ihr einen Blick zu, den Tala gut kennt. Sie nickt nur und verschwindet mit ihrem großen Bruder im Hinterzimmer.

Nahed, 35 Jahre alt, schickt ihre Kinder immer hinaus, wenn sie über Hasan spricht. Tala und Zaid wissen, was mit ihrem Vater passiert ist, aber sie fragen nicht nach. Und sie fahren nicht mit, wenn Nahed, wie jede Woche, in den Bus steigt, in die Linie 16a, um die 18 Stationen bis zur Wagner-Schönkirch-Gasse im 23. Bezirk zu fahren. Wenn sie ihren Mann Hasan besucht, der seit fünf Jahren begraben liegt auf dem Islamischen Friedhof am Stadtrand von Wien. 

Hasan hat Österreich nie gesehen. Er war 34, als er starb. Ganz Europa hat damals über seinen Tod gesprochen. Heute, fünf Jahre später, sagt Nahed: "Ich glaube, es haben alle vergessen. Ich kann es nicht."

Hasan al-Damen, ein Familienvater und Universitätsprofessor aus der syrischen Hauptstadt Damaskus, ist einer von Tausenden Menschen, die in den vergangenen Jahren auf der Flucht nach Europa ums Leben kamen. Er wurde am Morgen des 27. August 2015 in einem Lkw an der A 4 nahe Parndorf gefunden, tot, zusammengepfercht mit 70 anderen Leichen. 

Die Bilder vom Kühllaster mit dem Hühnerlogo gingen damals um die Welt. Mit der Katastrophe von Parndorf kam die Flüchtlingskrise endgültig in Europa an. 59 Männer, acht Frauen, drei Jungen und ein Mädchen ertranken nicht irgendwo im Mittelmeer, sie erstickten qualvoll mitten in Europa. Ein Wagen voller Leichen, abgestellt wie ein Pannenauto, 50 Kilometer vor Wien.

Fünf Jahre später sagt Christian Rosenich, der Kriminalbeamte aus Eisenstadt, der die Leichen damals identifiziert hat und der herausgefunden hat, dass auch Hasan im Lkw war: "Als Polizist darfst du so etwas nicht an dich heranlassen. Für mich war der Fall im Herbst 2018 gegessen."

Fünf Jahre später sagt Wolfgang Kovacs, der Bürgermeister von Parndorf: "Die Leute hier wollen nichts mehr hören davon." Würde nicht jedes Jahr darüber berichtet werden und jemand vorbeikommen, um nachzufragen, sagt Kovacs, "in Parndorf würde kein Mensch mehr daran denken".

Doch Nahed, so viel ist sicher, wird auch in zehn Jahren noch sagen, dass sie nie vergessen wird.

Was macht eine Tragödie, die so unfassbar ist, mit Polizisten wie Rosenich oder mit Angehörigen wie Nahed? Und was macht sie mit einem Land?

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