Grenzwertig

Tetiana Lamaieva war bei ihrer Tochter in Hamburg zu Besuch. Dann kam Corona. Und auf der Rückreise in ihre ukrainische Heimat wirft die Bundespolizei der Rentnerin plötzlich vor, eine "vorsätzliche schwere Straftat" begangen zu haben.

Von Friederike Oertel und Martin Nejezchleba

erchschienen in DIE ZEIT am 27. August 2020


Tetiana Lamaieva sieht nicht aus wie eine Verbrecherin. Die 72-jährige Rentnerin trägt eine rosa Bluse, Runzeln umgeben Mund und Augen. Sie sitzt an einem Tisch in ihrer Wohnung in Odessa. Die Tapete ist goldbraun, an der Wand hängt eine Lampe mit Blumenmuster. Mehr ist auf dem Bildschirm des Smartphones nicht zu sehen, das ihre Tochter Lilia Kotliar in Hamburg gegen eine Wasserflasche lehnt. "Wie geht es dir, Mama?", fragt die Tochter auf Russisch. "Ein bisschen besser", antwortet die Mutter. Die Tochter übersetzt für die ZEIT.

Es ist Mitte August, und gegen die Rentnerin aus der Ukraine läuft in Deutschland ein Ermittlungsverfahren. Ihr wird vorgeworfen, eine "vorsätzliche schwere Straftat" begangen zu haben. Diese stelle eine "erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar". Gegen sie wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von zwei Jahren erlassen. Sollte sie es missachten, droht ihr eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren. Tetiana Lamaieva schüttelt den Kopf. Sie wollte doch nur ihre Familie in Hamburg besuchen.

Der Fall von Tetiana Lamaieva ist ein Beispiel dafür, wie der Einzelne während der Pandemie zwischen die Räder der Bürokratie geraten kann. Corona hat den Alltag aller in Deutschland durcheinandergebracht – auch den der Behörden. Seit Monaten arbeiten Beamte und Sachbearbeiter im Ausnahmezustand, mit immer neuen Sonderregelungen. Lars Jährmann ist Polizeihauptkommissar in Görlitz. Er war einer der Beamten, die in den Fall verwickelt waren. "Wir haben", sagt er, "einfach unseren Job gemacht." Und der lautet: alles ermitteln, was die Verdächtige be- und entlasten könnte. In Hamburg und Odessa erzählen die drei Frauen – Lamaieva, ihre Tochter und ihre Schwester –, warum sie glauben, dass ihnen Unrecht widerfahren ist. Lars Jährmann erzählt in Görlitz, warum er das anders sieht.

Es ist der 21. Dezember 2019, als Lilia Kotliar ihre Mutter vom Zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) in Hamburg abholt. Kotliar, 54, lebt seit fast 30 Jahren in Deutschland. Einmal im Jahr kommt ihre Mutter zu Besuch, meistens bleibt sie über die Wintermonate. Heizgas ist teuer in der Ukraine, die Rente der Mutter gering. "Und sie soll Weihnachten nicht allein feiern", sagt ihre Tochter. Auch Enkel, Urenkel und die Schwester der Mutter wohnen in Billstedt.

Weiterlesen