Radikaler Journalismus - Ein Plädoyer in 12 Forderungen

erschienen in der Festschrift zum 20-Jährigen Bestehen von Netzwerk Recherche


Mit dem Medienkodex hat Netzwerk Recherche im Jahr 2006 klare Leitlinien für unser Handwerk definiert. Jetzt, 15 Jahre später, setzt sich eine Gruppe von Journalist:innen – darunter nr-Mitglieder, Stipendiat:innen und Referent:innen – mit grundlegenden Fragen unseres Berufs auseinander. Sie liefern Denkanstöße für einen reflektierten Journalismus. Zur Debatte darüber laden wir jede:n ein – etwa auf der Jahreskonferenz.


Fehlerkultur

Es braucht eine offene Fehlerkultur im Journalismus. Daher ist es notwendig, Fehler in der journalistischen Arbeit zu erkennen und aufzuarbeiten. Dasselbe gilt für strukturelle Missstände in der journalistischen Organisation. Wir können diese Arbeit nicht aussparen, denn sie ist die Basis.

Identität

Unsere Identität prägt unsere Arbeit. Das gilt für alle Menschen: egal ob weiß, männlich, BIPOC, behindert, able bodied, queer oder Arbeiterkind. Radikaler Journalismus erkennt das an und öffnet damit einen dringend notwendigen Debattenraum über objektivierbare journalistische Methoden anstatt sich in unfruchtbaren Kontroversen über Objektivität zu verstricken. 

Ego

Radikaler Journalismus vergisst nicht, dass er zuerst den Menschen verpflichtet ist, deren Geschichte er aufschreibt sowie seinen Leser*innen - nicht Preisjurys, Verleger*innen und vor allem nicht dem eigenen Ego. 

Kein*e Journalis*in ist eine Insel

Radikaler Journalismus erkennt an, dass journalistische Produktion immer eine Teamleistung ist. Die Erzählung des „genialen einsamen Reporters“ war schon immer falsch. Das heißt auch: Arbeit von sogenannten „Fixer*innen“, Übersetzer*innen und andere Personen, die zu einer Recherche beitragen, muss als gleichwertig anerkannt werden - auch finanziell. 

Prekarität

Zu viele Kolleg*innen, die Vollzeit arbeiten, können von dieser Arbeit nicht leben. Das betrifft besonders Freie. Radikaler Journalismus fordert: Gleichwertige Gehälter für freie und angestellte Journalist*innen. Es gibt Geld in dieser Branche, es ist nur sehr ungleich verteilt. Wer hat, der gibt. 

Ausbildung und Hürden

Der Zugang zu diesem Beruf muss offener werden. Jede Redaktion, jede Journalismusschule muss sich kritisch befragen, ob sie genug dafür tut, dass das passiert. Sind Praktika fair bezahlt? Wo und wie wird nach Bewerber*innen gesucht? Was sind Auswahlkriterien? Haben Quereinsteiger*innen eine echte Chance? Werden unbewusste Vorurteile und besonders internalisierter Rassismus und Sexismus im Auswahlprozess bewusst reflektiert und bekämpft?

Transparenz

Radikaler Journalismus macht deutlich, woher Informationen stammen. Er versteckt sich nicht hinter kryptischen Formulierungen, die die Arbeit von Rechercheportalen oder Aktivist*innen unsichtbar machen (siehe: Ego). Quellen werden, soweit es der Informant*innenschutz zulässt, genannt und verlinkt. Auch kleine Medien landen Scoops. Darauf zu verweisen ist nicht radikal, sondern basic Anstand. 

Perspektiven und Komplexität

Radikaler Journalismus, fragt sich immer: Wen habe ich noch nicht befragt? Welche Perspektiven und Räume habe ich vergessen? Habe ich eine wichtige Stimme unterschlagen, um meinen Artikel einfacher zu machen? Radikaler Journalismus hat keine Angst vor Komplexität und Ungehörtem. 

Glaubwürdigkeit und Verantwortung

Es gibt viele Menschen, die aus guten Gründen kein Vertrauen mehr in den Journalismus haben. Vor allem BIPOC, aber auch andere marginalisierte Menschen äußern seit Jahren legitime Kritik, weil ihre Perspektiven oft nur einseitig und klischeehaft dargestellt werden und ihre Anliegen in der Themenauswahl immer wieder übergangen werden. Das muss endlich ernst genommen werden. 

Expertise

Journalist*innen müssen sich sehr gut auskennen in den Themen zu denen sie berichten. Wir erleben, dass Redaktionen Journalist*innen mit wenig oder keinen Landes- und Sprachkenntnisse für Recherchen zwei Wochen ins Ausland schicken. Zurück kommen oft klischeebehaftete Beiträge,  mitunter voller Fehler und Kritik von Betroffenen oder Expert*innen daran wird zu oft  ignoriert. Insbesondere Berichte aus dem Ausland, über Rassismus, Feminismus oder Kriege und Krisensituationen werden zu oft behandelt, als bräuchte man dafür kein Fachwissen.

Sprache

Sprache ist Macht. Radikaler Journalismus erkennt dies an und verpflichtet sich, die Konnotationen und Implikationen genutzter Sprache zu reflektieren und, wenn nötig, die Sprache anzupassen, insbesondere bei Themen wie Femiziden, Rassismus, Völkermorden.

Nestbeschmutzung 

Eine machtkritische Haltung bedeutet für uns, dass wir keinen ehrlichen Blick auf die Gesellschaft richten können, wenn wir uns nicht gleichzeitig auch mit Machtstrukturen in Redaktionen und anderen Organisationsformen von Journalismus auseinandersetzen. Im radikalen Journalismus sind „Nestbeschmutzer*innen“ die Mitarbeitenden des Monats (siehe: Fehlerkultur).


Unterzeichner*innen

Aiko Kempen

Alicia Prager

Anina Rana Ritscher

Ann Esswein

Arne Semsrott  

Bartholomäus Laffert

Friederike Oertel 

Eva Hoffmann

Melina Borčak

Mohamed Amjahid

Pascale Müller

Pia Stendera

Susan Djahangard

Vera Deleja-Hotko